Ad hoc. Für den Augenblick gemacht, aus der Situation heraus. Einen treffenderen Titel hätte Dominic Miller fürs jüngste Album wohl nicht finden können, ging es ihm doch darum, die Spontaneität des kreativen Prozesses beim Musikmachen festzuhalten. Er wollte, dass die Lust an der freien Gestaltung nicht verloren geht und auch auf dem Tonträger noch spürbar bleibt, wie er betont:
„Aus Erfahrung weiß ich, dass eine neue Idee oder ein neues
Konzept beim ersten Mal so gut klingt wie danach nie wieder. Es ist fast wie beim ersten Kuss. Der ist vielleicht etwas unbeholfen, aber wirklich unvergesslich und ehrlich. Das neue Album sollte genau dieses Gefühl einfangen, deswegen habe ich mit voller Absicht keine Demofassungen vorbereitet. Ich wusste also nicht, wie alles klingen würde, bevor ich mit den Musikern im Studio eintraf. Obwohl wir uns alle sehr gut kennen, wollte ich, dass sie aufgeregt und sogar verletzlich sind, als wären sie auf einem ersten Date.“
Ort des Geschehens war wie schon beim Vorgänger „5th House“ das Maarwegstudio 2 in Köln, in dem sich der Gitarrist mit hochkarätigen Kollegen umgab. Die funken auf derselben Wellenlänge wie er und haben allesamt bereits in anderen Zusammenhängen ihre Klasse und internationale Reputation unter Beweis gestellt. In den Liner Notes bedankt sich Miller bei den Mitwirkenden und streicht heraus, er habe sie in erster Linie wegen ihres Instinkts ausgewählt. Über den gebürtigen Marokkaner Rhani Krija, der Perkussionsinstrumente aus aller Herren Länder beherrscht und bereits mit Omar Sosa, Don Byron, Keziah Jones, Xavier Naidoo und Sarah Connor zusammengearbeitet hat, sagt er:
„Er bringt Leben, Freude und Humor in die Musik. Außerdem ist er mein drittes Ohr und zuverlässiger Vertrauter.“ Nicht weniger anerkennend äußert sich Miller über Lars Danielsson (Kenny Wheeler, Trilok Gurtu, John Scofield, Cæcilie Norby) an Stehbass und Cello: „Alles was Lars macht, verströmt guten Geschmack. Ihm könnte ich jeden Tag rund um die Uhr zuhören.“
In der Tat ist der Schwede mit seinem singend-warmen, kultivierten Ton und lässigen Groove stets Garant für ein sinnliches Hörvergnügen. Das vermittelt auch Sebastian Studnitzky in den letzten Jahren regelmäßig, beispielsweise als Sideman von Rebekka Bakken, Nils Landgren und Wolfgang Haffner. Für Dominic Miller ist der Trompeter/Keyboarder aus dem Schwarzwald „der vollkommene Allround-Musiker, dessen Persönlichkeit und Harmonieverständnis sich durch das ganze Album ziehen, sogar durch die Stücke, bei denen er gar nicht mitgespielt hat.“ Mit Eda Zari aus dem albanischen Tirana ist eine ganz besondere Künstlerin mit von der Partie. Der lyrische Koloratursopran der staatlich geprüften Opernsängerin, die inzwischen in Deutschland lebt, besitzt eine unglaubliche Strahlkraft, er hypnotisiert den Hörer mit großer Leidenschaft, Energie und Tiefe. Dylan Fowler aus Wales hat sich auf die Lap Steel Guitar spezialisiert, seine Fachkenntnisse wurden unter anderem bereits von Danny Thompson und Richard Thompson angefragt. Der in Newcastle aufgewachsene fiddle player Peter Tickell zuguterletzt hat sich in Kooperationen mit Sting („If On A Winter’s Night“), Vincent Segal und Maybe Myrtle Tyrtle seine Meriten verdient. Der stiloffene Geiger wurde von Dominic Miller
wegen seiner ansteckenden Hingabe zu den Aufnahmen hinzugezogen:
„Nachdem ich in den letzten Jahren mit Peter auf Tour war, gehört er längst zur Familie. Er spielt jede Note, als würde sein Leben davon abhängen.“
Bandleader Miller selbst genießt in der Fachwelt und unter Musikliebhabern einen tadellosen Ruf. Der in Buenos Aires geborene Sohn eines Amerikaners und einer Irin studierte Gitarre
an Bostons renommiertem Berklee College sowie an Londons Guildhall School Of Music und ist seit den späten 80ern ein viel gebuchter Sessionmusiker. Die Liste seiner Engagements sprengt jeden Rahmen, stellvertretend seien nur die Kollaborationen mit The Chieftains („Long Black Veil“), Eddi Reader („Mirmama“), Manu Dibango („Wakafrika“) und Tina Turner („Wildest Dreams“) genannt. Seit „The Soul Cages“ aus dem Jahre 1991 war Dominic Miller zudem an jedem Sting-Album beteiligt, er stand in über eintausend Konzerten mit dem ehemaligen „Polizisten“ auf der Bühne und erdachte mit ihm Hitsongs wie „Shape Of My Heart“. Mit „ad hoc“ nun fügt der Ausnahmegitarrist seiner Diskographie ein weiteres Solo-Highlight hinzu.
„Wie bei früheren Alben hatte ich die Stücke ziemlich schnell geschrieben“, erinnert sich Miller. „Was dann wirklich Zeit in Anspruch nimmt, ist das Arrangieren. Ich mag es, Probleme zu lösen, wie etwa das, von einer Tonart zur nächsten und am Ende sicher wieder ’nach Hause‘ zu kommen. Eine Inspiration ist eigentlich nur ein Hinweis auf ein viel größeres Bild. Mein Job besteht darin, respektvoll damit umzugehen, die Inspiration zu entschlüsseln und zu einem Resultat zu führen, so als hätte ich den Lösungsschlüssel für ein ganzes Kreuzworträtsel bekommen.“
Tatkräftige Unterstützung beim Knacken der Rätselnüsse erhielt Miller diesmal – wie gesagt – von herausragenden Meistern ihres Fachs. Mit ihnen an seiner Seite verwirklichte er ein für Neuerungen aufgeschlossenes Werk, das alle Freunde vielseitiger Klänge begeistern dürfte. Die beteiligten Grenzgänger scheren sich nicht um althergebrachte Gattungsbarrieren, in Titeln wie „Exiting Purgatory“ im vertrackten 7/8-Takt, dem zärtlich-melodischen „Eva“, der Sound-Meditation „Shavasana“ und einem an Weather Report erinnernden Worldjazz in „Moroccan Roll“ fallen sämtliche Schlagbäume zwischen den Stilen. Das Besondere ist nun, dass man beim bloßen Crossover von mal Naheliegendem, mal Weitentferntem nicht stehen bleibt. Die Verbindung von Modern Jazz, Electronica, Akustikfolk, zeitgenössischer Klassik und Weltmusik ergibt auf „ad hoc“ vielmehr etwas gänzlich Neues. Der passende Begriff für die so noch nicht gehörte Symbiose muss freilich erst noch geprägt werden. Vorschläge, anyone?